* 17 *

Während Septimus und Beetle dem Taubenpostamt einen zweiten Besuch abstatteten, saß Jenna, einer Taube nicht unähnlich, auf der untersten Rah des Fockmastes, ließ frech die Beine baumeln und sah zu, wie Milos sehnlich erwartete Fracht an Bord gehievt wurde. Eine klobige, ramponierte und mit Eisenbändern beschlagene Truhe schwang, am Ausleger eines Krans hängend, hin und her und drehte sich, während sie langsam in den Laderaum hinabgelassen wurde.
Milo stand mit verschränkten Armen neben der Laderaumluke. Die Sonne spiegelte sich im Goldbesatz seines langen roten Mantels, und das lockige dunkle Haar, das ihm auf die Schultern wallte, wurde von noch mehr Gold gebändigt – einem breiten Stirnband, von dem er annahm, das es ihm Autorität verlieh (und von dem er rote Flecken auf der Stirn bekam, wie er feststellte, wenn er es abends abnahm). In diesem Augenblick sah Milo Banda ganz wie ein Mann aus, der einen Erfolg errungen hatte und stolz darauf war.
Der Laderaum unter Milos in Sandalen steckenden Füßen reichte tief ins Innere der Cerys hinab. Er wurde von sechs Teerfackeln beleuchtet, und jede wurde von einem nervösen Matrosen gehalten, der half, die kostbare Truhe an ihren Platz zu bugsieren. Der Laderaum selbst war nur halb voll. Er enthielt die übliche Mischung aus kuriosen Dingen, die für den Palast bestimmt waren, und Waren, die Milo in Port zu verkaufen gedachte – Wollstoffballen, verschiedene Perlenhalsketten von den Inseln der Seichtmeere, einen Stapel Rentierfelle aus den Landen der langen Nächte und zehn Kisten mit allerlei Porzellangeschirr, Baumwollkleidung und Mausefallen, die er bei einer fragwürdigen Versteigerung zu mitternächtlicher Stunde am Handelsposten zu einem Schleuderpreis erworben hatte.
Für Sarah Heap war eine Kiste mit Silberbechern dabei, die nach Milos Geschmack eine deutliche Verbesserung gegenüber den derben Tonbechern darstellten, die Sarah hartnäckig benutzte. Es gab auch andere Gegenstände, von denen sich Milo eine, wie er es ausdrückte, »Belebung des Langgangs« erhoffte. Darunter waren zwei bemalte Statuen, die er Kaufleuten aus den Landen des singenden Sandes zu einem guten Preis abgekauft hatte – zusammen mit den üblichen grässlich verzierten Touristenkrügen, voll mit sogenanntem singenden Sand, der gewöhnlich stumm blieb, sobald er abgefüllt wurde. Und schließlich eine Sammlung seltsamer, aus Muschelschalen gefertigter Bilder sowie eine Familie ausgestopfter Riesenseeschlangen, die Milo (allzu optimistisch, wie sich herausstellen sollte) an der Decke im Langgang aufzuhängen gedachte.
Milo freute sich über diese Erwerbungen, aber sie waren nicht der Grund, warum die Cerys seit vielen Wochen an ihrem erstklassigen und teuren Liegeplatz lag. Der Grund dafür wurde jetzt unter Milos wachsamen Augen ganz behutsam in der von Fackeln erhellten Tiefe versenkt. Milo lächelte, als die Truhe, dirigiert von den Matrosen, an dem ihr zugedachten Platz abgesetzt wurde und sich perfekt einpasste.
Er winkte Jenna, die noch immer auf ihrem Aussichtspunkt hockte. Wie ein gelernter Seemann schwang sie sich von der Rah, rutschte an einem Tau herunter und landete leichtfüßig auf dem Deck. Milo beobachtete sie mit einem Lächeln und dachte an jenen Tag, an dem ihre Mutter darauf bestanden hatte, an den Weinranken an der Palastmauer hochzuklettern, bis hinauf zum Dach, nur um einen Tennisball zu holen, und anschließend wieder herunterrutschte. Sie war lachend unten angekommen, voller Blätter und Kratzer – und hatte das Spiel trotzdem noch gewonnen. Jenna erinnerte ihn sehr an Cerys. Mit jedem Tag, den er mit ihr verbrachte, dachte er mehr an ihre Mutter, und manchmal wäre ihm lieber gewesen, er würde es nicht tun – er konnte nur ein gewisses Maß an Erinnerungen verkraften.
Jenna kam zu ihm, und Milo schüttelte seine Gedanken ab. Er sprang auf die Leiter und stieg in den Laderaum hinab. Jenna folgte ihm. Die Luft wurde kühl und feucht, als sie in den Bauch der Cerys kletterten, dem flackernden Fackelschein und aufgeregten Gemurmel entgegen, das die Neuerwerbung umgab. Jenna wunderte sich, wie lange der Abstieg dauerte. Sie hätte nicht gedacht, dass ein so großer Teil des Schiffes unter der Wasserlinie lag. Schließlich erreichte sie den Fuß der Leiter, und Milo führte sie in Begleitung eines Matrosen, der ihnen mit einer Fackel leuchtete, zu der Truhe.
Jenna zögerte. Die Truhe umgab eine seltsame Atmosphäre, die ihr nicht sonderlich behagte.
Milo schmunzelte. »Du kannst sie ruhig anfassen, sie beißt nicht.«
Misstrauisch trat Jenna näher und legte die Hand auf die Truhe. Das alte Holz fühlte sich kalt und hart an wie Metall. Es war mit Kratzern und Dellen übersät, und seine schwarzbraune Oberfläche glänzte so intensiv, dass sich der Fackelschein darin spiegelte und den seltsamen Eindruck erweckte, als bewege sie sich. Die Eisenbänder waren voller Rostflecken und Kerben, und überhaupt sah die Truhe so aus, als hätte sie stürmische Zeiten hinter sich. Jenna musste sich auf die Zehenspitzen stellen, damit sie den Deckel betrachten konnte. In das Holz war eine große, quadratische Goldplatte eingesetzt, und in die Platte waren drei Zeilen Hieroglyphen graviert.
»Die sehen interessant aus«, sagte Jenna. »Was bedeuten sie?«
»Ach, kümmere dich nicht um den alten Kram«, antwortete Milo geringschätzig, wandte sich an die Matrosen und befahl: »Lasst uns allein.«
Die Matrosen salutierten kurz und entfernten sich.
Milo wartete, bis der Letzte oben von der Leiter gestiegen war, dann wandte er sich mit einem triumphierenden Leuchten in den Augen Jenna zu. Jenna kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er zu einer Rede ausholte. Sie unterdrückte einen Seufzer.
»Dies ist ein großer Augenblick«, begann Milo. »Seit jenem Tag, als ich deine Mutter zum ersten Mal sah, habe ich nach dieser Truhe ...«
»Meiner Mutter?«, unterbrach Jenna, die sich verwundert fragte, wieso er von Sarah Heap beauftragt worden war, eine verbeulte alte Truhe zu suchen, bis ihr dämmerte, dass er von Königin Cerys sprach, ihrer »ersten Mutter«, wie Sarah Heap sie nannte.
»Ja, deine liebe, teure Mutter. Ach, Jenna, wie ähnlich du ihr bist. Weißt du, deine Mutter hat mich immer mit demselben Blick angesehen wie du jetzt, besonders wenn ich ihr von meinen großen Plänen erzählte. Aber nun haben meine Bestrebungen endlich Früchte getragen, und wir haben diese Früchte ... äh, die Truhe ... hier an Bord der Cerys. Und was das Schönste ist: Im Augenblick ihres Eintreffens ist auch meine Prinzessin hier. Ein wunderbares Vorzeichen, findest du nicht auch?« Nach all den Jahren auf See besaß Milo eine gehörige Portion seemännischen Aberglauben.
Jenna, die nicht viel auf Vorzeichen gab, antwortete nicht.
Milo legte die Hände auf den Deckel der Truhe und lächelte auf Jenna herab. »Ich finde, wir sollten sie jetzt öffnen. Einverstanden?«
Jenna nickte unsicher. Obwohl sie sehr neugierig darauf war, was sich in der Truhe befand, wurde sie in ihrer Gegenwart ein gewisses Unbehagen nicht los.
Milo wartete gar nicht erst auf Jennas Zustimmung. Er zog seinen Knotenlöser aus dem Gürtel und ging daran, die alten gehärteten Ledergurte, mit denen die Eisenbänder zusammengehalten wurden, aus ihren dicken Messingschnallen zu ziehen. Klirrend sprang das erste Band auf, und Jenna machte vor Schreck einen Satz. Das zweite fiel Milo auf den Fuß.
»Uff!«, stöhnte er. Mit zusammengebissenen Zähnen ergriff er den Deckel, hob ihn langsam hoch und klappte ihn nach hinten, bis sich die beiden Halteriemen strafften.
»Schau hinein«, forderte er sie stolz auf. »Dies alles ist dein.«
Jenna stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte hinein. »Oh«, entfuhr es ihr.
»Du solltest nicht enttäuscht sein«, sagte Milo. »Dieser Schatz ist größer, als du dir vorstellen kannst.«
Jenna bezweifelte, dass dies möglich war – sie konnte sich einen furchtbar großen Schatz vorstellen, wenn sie sich konzentrierte. Verwirrt blickte sie in die Truhe – wieso machte Milo so viel Aufhebens um das Ding? Sie sah nur nacktes, wurmstichiges Holz, das nicht einmal mit Silber ausgekleidet war wie viele andere Schatztruhen, und mehrere Reihen kleiner, verbeulter und zerkratzter Bleiröhren, die sauber gestapelt in Holzkästchen lagen. Jede Röhre war mit Wachs versiegelt und trug eine kleine verschnörkelte Inschrift. Alles war sehr ordentlich, aber es war eben nicht der Haufen Edelsteine und Gold, den Jenna erwartet hatte.
»Bist du nicht beeindruckt?«, fragte Milo mit ein wenig Enttäuschung in der Stimme.
Jenna überlegte, was sie Positives sagen konnte. »Na ja, es sind ziemlich viele. Und ... äh ... sie waren bestimmt ziemlich schwer zu finden.«
»Du machst dir kein Bild, wie schwer«, erwiderte Milo mit einem begeisterten Blick in die Truhe. »Aber es hat sich gelohnt, warte nur ab.« Er blickte Jenna aus glänzenden Augen an. »Jetzt ist deine Zukunft als Königin gesichert. Ach, hätte ich sie doch nur rechtzeitig für deine liebe Mutter gefunden ...«
Jenna schaute wieder in die Truhe und fragte sich, ob sie vielleicht etwas übersehen hatte.
»Dann liegt da noch was Besonderes unter diesen ... äh ... Röhrendingern?«, fragte sie.
Milo blickte ein wenig pikiert. »Sind die nicht besonders genug?«
»Aber was sind sie denn? Was ist denn so bemerkenswert an ihnen?«, fragte Jenna.
»Ich hoffe, du brauchst es nie herauszufinden«, antwortete Milo und klappte ehrfürchtig den Deckel zu.
Ärger wallte in Jenna hoch. Wieso tat Milo so geheimnisvoll? Sie hatte das Gefühl, dass er niemals etwas geradeheraus sagte. Er erging sich in Andeutungen, behielt aber immer etwas für sich – sodass sie neugierig wurde und mehr erfahren wollte. Mit ihm zu reden war wie der Versuch, einen Schatten zu fangen.
Milo legte die Eisenbänder wieder um die Truhe. »Wenn wir in der Burg sind, bringe ich sie gleich in den Palast und stelle sie im Thronsaal auf.«
»Im Thronsaal? Aber ich will nicht...«
»Jenna, ich bestehe darauf. Und ich möchte, dass du keiner Menschenseele sagst, was in der Truhe ist. Das muss unser Geheimnis bleiben. Niemand darf davon erfahren.«
»Milo, ich habe vor Marcia keine Geheimnisse«, protestierte Jenna.
»Ach ja, Marcia werden wir natürlich einweihen«, sagte Milo. »Wir brauchen sie sogar. Sie muss uns in die Gewölbe des Manuskriptoriums begleiten, wo ich das letzte ... äh ...Teil dieser Sendung holen werde. Aber ich wünsche nicht, dass jemand an Bord oder hier am Handelsposten davon erfährt. Ich bin nicht der Einzige, der danach gesucht hat – aber jetzt ist sie in meinem Besitz, und dabei soll es auch bleiben. Verstehst du?«
»Ich verstehe«, antwortete Jenna leicht unwillig. Sie nahm sich fest vor, alles, was ihr Milo sagte, Marcia und Septimus zu erzählen.
»Gut, dann wollen wir die Truhe jetzt für die Heimreise sichern.« Milo hob die Stimme. »Matrosen in den Laderaum!«
Zehn Minuten später erfüllte der Geruch von heißem Teer die Luft. Jenna war wieder an Deck und sah zu, wie die Deckel der Laderaumluke geschlossen wurden. Einer nach dem anderen wurde an seinen Platz gelegt, sodass sich die Teakholzstreifen perfekt an die auf dem Deck fügten. Milo vergewisserte sich, dass alles fest verschlossen war, dann winkte er einem jungen Matrosen, der über einer Flamme einen Topf Teer zum Schmelzen gebracht hatte. Der Matrose nahm den Topf von der Flamme und trug ihn zu Milo, der in einer Tasche seines Umhangs kramte und dann etwas verstohlen eine kleine schwarze Phiole hervorzog.
»Halt den Topf fest, Jem«, forderte er den Matrosen auf. »Ich schütte jetzt dies hier in den Teer. Du darfst auf keinen Fall einatmen.«
Der Matrose sah ihn besorgt an. »Was ist das?«, fragte er.
»Nichts, was du kennst«, antwortete Milo. »Hoffe ich jedenfalls. Mir wäre nicht wohl bei dem Gedanken, dass unser Bordsanitäter damit herumhantiert. Jenna, bleib bitte zurück.«
Jenna entfernte sich ein paar Schritte. Dann zog Milo rasch den Stopfen aus der Phiole und kippte den Inhalt in den Teer. Eine kleine schwarze Dampfwolke stieg auf. Jem drehte das Gesicht weg und hustete.
»Lass den Teer aufkochen«, wies ihn Milo an, »dann gießt du ihn drüber wie sonst auch und versiegelst den Laderaum.«
»Aye, aye, Sir«, sagte Jem und trug den Topf zu der Flamme zurück.
Milo gesellte sich zu Jenna.
»Was ist das für ein Zeug?«, fragte sie.
»Ach, nur eine Kleinigkeit, die ich in dem Laden für Schwarzkunstbedarf in Hafen Dreizehn gekauft habe«, antwortete Milo. »Damit unser Schatz bis Port sicher ist. Ich möchte nicht, dass jemand in den Laderaum hinabsteigt.«
»Aha«, sagte Jenna. Sie glaubte keine Sekunde, dass sich Milo mit schwarzer Magie abgab, und es ärgerte sie, dass er ihr das Gegenteil weismachen wollte. Schweigend stand sie da und sah zu, wie Jem den Teertopf von der Flamme nahm, ganz vorsichtig an den Deckeln der Laderaumluke entlangschritt und einen dünnen Strahl glänzenden schwarzen Teers in die Fuge zwischen Deck und Deckel goss. Bald verrieten nur noch zwei eingelassene Messingringe und ein dünner Teerstreifen, wo der Zugang zum Laderaum war.
Zu Jennas Ärger legte ihr Milo den Arm um die Schultern und führte sie übers Deck auf die dem Hafen abgewandte Seite, fort von den Schaulustigen, die den ganzen Tag scharenweise auf dem Kai standen und die Cerys bestaunten. »Ich weiß«, sagte er, »dass du mich für einen Rabenvater hältst. Und vielleicht bin ich das auch, aber die Truhe ist der Grund, warum ich so lange fort gewesen bin, sie ist es, die ich gesucht habe. Und wenn wir günstige Winde für eine glückliche Überfahrt haben, wird sie bald im Palast sein, wo sie sicher ist – und dann wirst auch du sicher sein.«
Jenna sah Milo an. »Ich verstehe das alles nicht. Was ist denn so Besonderes an ihr?«
»Das wirst du herausfinden, wenn die Zeit gekommen ist«, antwortete Milo.
Zum Glück ahnte er nicht, dass seine Tochter am liebsten »Warum gibst du mir nie eine richtige Antwort auf meine Fragen?« geschrien hätte, und so fuhr er fort: »Komm, Jenna, lass uns nach unten gehen. Ich finde, wir haben einen Grund zum Feiern.«
Jenna widerstand dem Verlangen, ihn zu treten.
Während die beiden unter Deck verschwanden, betrachtete Jem skeptisch den schwarzen Bodensatz, der noch im Topf klebte. Nach einigem Überlegen warf er den Topf über Bord. Jem war nicht immer ein einfacher Matrose gewesen. Einst war er in den Landen der langen Nächte bei einem berühmten Physikus in die Lehre gegangen, bis die Tochter des Heilkünstlers sich in sein schiefes Grinsen und seine dunklen Locken verguckte und das Leben für seinen Geschmack ein wenig zu kompliziert wurde. Er hatte die Lehre abgebrochen, aber er hatte genug gelernt, um zu wissen, dass diese Dichtungsmittel von Schwarzkünstlern nicht unbedingt zu den Dingen gehörten, die man gern an Bord eines Schiffes hatte. Er stieg vorsichtig über den schmalen Teerstreifen, der die Deckel der Frachtraumluke umsäumte, und kletterte nach unten ins Krankenrevier, wo er für die Besatzungsmitglieder einen Aushang schrieb, in dem er sie aufforderte, nicht auf die Versiegelung der Laderaumluke zu treten.
Tief unten im Laderaum gewöhnte sich der Inhalt der alten Ebenholztruhe an die Dunkelheit und wartete.